2009/03/26

Lyrik des Monats: Das Ich - Schwarzer Stern

Ich versuche mir zu wiederstehn, dass
ich nicht aus Wut den Vater töte.
Ich behalte meine Wahrheit mir, dass
ich nicht sterben muss den Geistestod.
Ich verstecke mich in meinem Wort, dass
ich nicht leiden muss des andern Zorn.
Ich berufe mich auf mein Gefühl, dass
ich nicht reden muss von meiner Gier.


Ich blute aus, ich faule aus,
ich lebe nur für meinen Tod.
Ich blute aus, ich faule aus,
ich lebe nur für meinen Tod.


Ich verschlinge mich in meinem Hass, dass
ich nicht sehen lass den bösen Schmerz.
Ich belüge dich mit Feuermund, dass
ich nicht blass noch schön von reden muss.
Ich verdiene mir des Andern Schmerz, dass
ich nicht zeigen muss mein wahres Selbst.
Ich berate mich mit drein von mir, dass
ich nicht hören muss was mich verzagt.


Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mir hilft, der mich fängt wenn ich verlier.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mich ruft, der mich immer wieder ruft.
Ich reite auf, dem schwarzen Stern,
der mir hilft, der mich fängt wenn ich verlier.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mich ruft, der mich ruft, der mich immer wieder ruft.


Ich verkünde heut mein schwarzes Herz, dass
ich nicht leben muss wie faulend Tier.
Ich befreie mich von meinem Stolz, dass
ich nicht balancier dem Abgrund nah.
Ich verbünde mich mit meinem leid, dass
ich nicht Sonne tanz wenn's eist und schneit.
Ich besiege die Mutter Natur, dass
ich nicht liegen muss im Kindessarg.


Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mir hilft, der mich fängt wenn ich verlier.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mich ruft, der mich immer wieder ruft.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mir hilft, der mich fängt wenn ich verlier.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mich ruft, der mich ruft, der mich immer wieder ruft.


Ich blute aus, ich faule aus,
ich lebe nur für meinen Tod.
Ich blute aus, ich faule aus,
ich lebe nur für meinen Tod.


Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mir hilft, der mich fängt wenn ich verlier.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mich ruft, der mich immer wieder ruft.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mir hilft, der mich fängt wenn ich verlier.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mich ruft, der mich ruft, der mich immer wieder ruft.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mir hilft, der mich fängt wenn ich verlier.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mich ruft, der mich immer wieder ruft.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mir hilft, der mich fängt wenn ich verlier.
Ich reite auf dem schwarzen Stern,
der mich ruft, der mich ruft, der mich immer wieder ruft.

2009/03/24

Bescheuert

Er


Bescheuert, dachte er.

Bescheuert.

Er hatte das schon so oft gedacht. Er hatte es gedacht als sie das erste Mal mit ihr sprach.

Bescheuert.

Er hatte es gedacht als er das erste Mal mit ihr allein war.

Bescheuert.

Eigentlich hatte er es immer gedacht wenn es um sie ging.

Bescheuert.

Ja, das war bescheuert, dachte er. Und er hasste sich dafür. Er hasste sich dafür, dass er sie im-mer mit einer Abscheu beachtet hatte, immer. Auch als er begann sich in sie zu verlieben. Er hatte sie immer nur für bescheuert gehalten, seit er sie das erste Mal gesehen hatte.

Er wusste nicht einmal warum.

Er durchforstete seine Erinnerung nach einem Anzeichen dafür, dass sie nicht bescheuert gewesen war. Nichts.

Er durchforstete seine Erinnerung nach einem Anzeichen dafür, dass sie wirklich bescheuert gewesen war. Nichts.

Ihm kam langsam der Gedanke, dass er sich nie besonders für sie interessiert hatte. Und doch hatte er sie geliebt.

Er fühlte sich schlecht. Hatte er sie schlecht behandelt? Er konnte sich nicht daran erinnern. Aber er konnte sich auch nicht daran erinnern sie gut behandelt zu haben. Ja, wie hatte er sie denn überhaupt behandelt?

Sicher, er hatte sich um sie gekümmert. Er hatte dafür gesorgt, dass es ihr gut ging. Er wusste weshalb. Er wusste er hatte es nur wegen seines Gewissens getan. Er hatte sie weder gut noch schlecht behandelt; lediglich so, dass sie zufrieden war.

Er hatte sie bei Laune gehalten. Nur um sich bei Laune zu halten.

Er liebte sie. Nein.

Er hatte sie geliebt. Ja.

Ihr Wohlbefinden war demnach mit seinem verknüpft, dachte er. Das würde erklären warum er sich so mies fühlte.

Und er krümmte keinen Finger.

Er stand da und sah zu.


Sie


Hilflos, dachte sie.

Hilflos.

Sie war hilflos.

Hilflos.

Das war sie immer gewesen.

Hilflos.

Sie hatte sich immer einsam gefühlt, einsam und hilflos.

Hilflos.

Und dann kam er. Er hatte ihr geholfen, ihr Kraft gegeben. In seiner Nähe fühlte sie sich stark. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich getroffen hatten. Sie hatte ihn bewundert. Er war lässig und locker gewesen. Hatte keine Angst vor dem Leben. Sie hatte Angst. Warum eigentlich?

Sie wusste nicht einmal warum.

Sie durchforstete ihre Erinnerungen nach einem Anzeichen dafür, wie sie so ängstlich geworden war. Nichts.

Sie durchforstete ihre Erinnerung nach einem Anzeichen, dass sie jemals mutig gewesen war. Nichts.

Ihr kam der Gedanke, sie war schon immer so gewesen. Abhängig von Stärke und selbst doch so schwach.

Sie fühlte sich schlecht. Hatte sie ihm jemals gedankt? Gedankt dafür, dass er ihr Mut gab? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Aber sie konnte sich auch nicht daran erinnern undankbar gewesen zu sein. Ja, wie war sie denn überhaupt zu ihm gewesen?

Sicher, sie hatte sich um ihn gekümmert. Sie hatte dafür gesorgt, dass es ihm gut ging. Sie wusste weshalb. Sie wusste sie hatte es nur wegen ihres Gewissens getan. Sie hatte ihn so behandelt wie sie es für richtig hielt; lediglich so, wie eine Frau ihren Mann behandeln sollte.

Sie hatte ihn bei Laune gehalten. Sie hasste sich dafür.

Sie liebte ihn. Nein.

Sie hatte ihn geliebt. Nein.

Sie hat ihn bewundert, er war intelligent gewesen. Und mutig. Sie war nur ein Insekt, das sich an seinem Mut labt.

Sie hoffte er würde keinen Finger krümmen.

Sie hoffte er würde dastehen und zusehen.


1


Wenn er sich daran erinnerte wie alles begann, fand er es bescheuert. Natürlich tat er das. Er fand ziemlich viel bescheuert. In seinen Augen war dieses Wort ziemlich treffsicher wenn es darum ging Dinge zu beschreiben. Besonders Dinge, die mit ihr zu tun hatten.

Diese Einsicht hatte er damals noch nicht.


Wenn sie sich daran erinnerte wie alles begann, schwelgte sie in Erinnerungen, Erinnerungen, die sie an eine schöne Zeit erinnerten. Eigentlich an eine schlechte Zeit, die durch eine Gute abgelöst wird. Sie erinnerte sich gerne daran.

Zumindest ist das jetzt so.


Er hatte beschlossen, sich zu betrinken. Warum wusste er nicht mehr. Er war wohl ziemlich sauer über irgendwas, hatte sich auf der Arbeit schwer getan; etwas in die Richtung muss es gewesen sein.

Daher ging er in einen kleinen Club am Rand der Stadt. Er setzte sich an den Tresen und trank. Er wollte diesen Tag hinter sich bringen. Es musste wohl etwas Schlimmeres gewesen sein, weshalb er sich betrinken wollte. Nach seinem ersten Whiskey bestellte er sich noch einen.

Eigentlich mochte er diesen Club nicht, das merkte er beim Trinken. Er mochte die Musik nicht, die gespielt wurde. Aber sein Musikgeschmack war kritisch, das wusste er. Er mochte den Geruch nicht. Auch mochte er es nicht was für Leute hier waren. Aber der Whiskey war gut. Er blieb.


Sie ging gerne in diesen Club. Das wusste sie. Meistens ging sie mit Freundinnen hin, selten alleine. Damals war sie allein gewesen. Sie fand es selbst ein wenig seltsam alleine zu gehen, redete sich jedoch immer wieder ein sie würde schon wen nettes finden. Sie fühlte sich ein bisschen unwohl, so alleine.

Sie setzte sich auf eines der Sofas, das in einer der Ecken stand. Es dauerte nicht lange und sie wurde von einem bekannten Gesicht angesprochen. Der Mann war nett zu ihr, spendierte ihr einen Drink. Obwohl er so nett war, mochte sie ihn nicht. Sie nahm nur aus Höflichkeit an. Der Mann bestellte mit der Zeit mehr und mehr Drinks. Ab dem dritten Glas lehnte sie jedoch Weiteres ab. Schließlich wurde er ungehalten, sah die Sinnlosigkeit dieser Unterhaltung und verschwand. Was er sagte wusste sie nicht mehr. Er war nicht mehr wichtig.


Es war sein siebtes Glas. Oder war es das achte? Er wusste es nicht mehr. Nüchtern war er nicht mehr. Aber trotz allem waren seine Sinne geschärft. Er hatte etwas entdeckt, weswegen sich das Kommen vielleicht noch gelohnt hatte. Er ging auf sie zu.


Er kam auf sie zu. Sie sah ihn schon als er vom Hocker aufstand und sich auf das Sofa zubewegte. Sie wusste sofort er würde zu ihr kommen. Sie wusste, dass sie hübsch war und war es gewohnt angesprochen zu werden. Sie wartete bis er direkt vor ihr stand bis sie ihn ansah. Ihr erster Gedanke war, dass er gut aussah. Er könnte ihr gefallen.


Er sprach sie an. Es war keine zu weit gegriffene Anmache wie er fand, er fand es nett und ehr-lich. Und so meinte er es auch. Sie überlegte eine Sekunde dann nickte sie, und er setzte sich. Er versuchte ein paar mehr Worte mit ihr zu wechseln, sie antwortete aber meistens nur knapp und kurz angebunden. Lediglich die Frage nach der Musik in diesem Club antwortete sie in einem größeren Redeschwall. Es kam ihm vor als freue sie sich darüber etwas mehr sagen zu können also bei den anderen Fragen, so sehr, dass sie einfach losplapperte.

Als sie fertig war, bemerkte sie wie erstaunt er auf sie blickte und errötete. Sie mochte es nicht zu viel zu reden oder zu sehr im Mittelpunkt zu stehen. Sie blickte auf ihre Füße. Als sie wieder auf-blickte - ein höhnisches Grinsen erwartend - sah sie, dass er lächelte. Sie lächelte zurück.


Bescheuert, dachte er. Nicht nur ihre Differenzen im Musikgeschmack, auch ihr Verhalten war einfach bescheuert. Es hatte ihn Kraft gekostet so zu lächeln, dass sie zurücklächelte. Sein Ziel hatte sich innerhalb von Sekundeschnelle geändert. Er hatte nicht mehr vor eine Beziehung zu der Frau ihm gegenüber aufzubauen. Er wollte nur noch seinem Drang nachgehen und glaubte er würde erfolgreich sein.


Sie fing an ihn zu mögen. Sie redete mehr und mehr mit ihm. Sie wunderte sich ob diese plötzli-che Öffnung ihrerseits vom Alkohol kam oder ob sie ihn wirklich mochte. Schließlich willigte sie ein, einen Spaziergang mit ihm zu unternehmen.


Er hatte ihr kaum zugehört. Aber er wusste sie hatte davon nichts bemerkt. Er hatte sie da wo er sie wollte. Neben ihm gehend, die dunklen Straßen entlang. Als sie schließlich da waren wo er sie haben wollte, brauchte er kaum noch Worte. Sie hatte mittlerweile das gleiche im Sinn.


Sie genoss es.


2


Er wachte als erstes auf. Er fühlte sich seltsam. Seltsam leer und gleichgültig. Und zugleich selt-sam glücklich. Er schaute sie, in seinen Armen liegend, an. Er konnte sich ein Lächeln nicht verknei-fen. Er schlief als erstes wieder ein.


Sie wachte als zweites auf. Sie fühlte sich seltsam. Seltsam glücklich und wohlgeborgen. Und zugleich seltsam ausnutzend. Sie schaut ihn, den Arm um sie gelegt, an. Sie lächelt. Sie schlief als zweites wieder ein.


Er wusste nicht mehr genau, wie sie den morgen miteinander verbrachten. Er glaubte immer noch er sei angetrunken und konnte sich nur an das seltsame erleichternde Gefühl erinnern. Er weiß nur noch, dass er traurig war als er sie gehen sah. Er wusste nicht einmal wohin sie ging. Er wusste nicht ob sie sich jemals wiedersehen würden. Schulterzuckend ging er ins Haus zurück. Er hatte sie schon fast vergessen.


Sie wusste noch genau, wie sie den morgen verbrachten. Sie standen miteinander auf. Sie frühstückten zusammen. Sie redeten nicht viel. Sie verbrachten noch etwas Zeit miteinander, hauptsächlich saßen sie sich gegenüber, wichen einander Blicke aus. Wenn sich ihre Blicke dennoch trafen, lächelten sie sich an. Danach sahen sie wieder weg. Sie mochte dieses Hin und Her. Sie versuchte ihm langsam wieder näher zu kommen. Erst den Fuß, dann die Hand. Er reagierte nicht auf ihre Aufforderung. Nach einer Weile gab sie es auf.

Schließlich wurde es ihr unangenehm. Sie erfand eine Ausrede und ging. Sie zwang sich, nicht zurückzublicken. Es fiel ihr leichter als sie dachte.


3


Es war ein schöner Donnerstag. Aber ihm war langweilig. Er fühlte sich seltsam nutzlos in seiner Wohnung. Er hatte das Gefühl, nach draußen gehen zu müssen. Er hatte das Gefühl, er würde ge-braucht werden.

Als er heraustrat aus der Haustür merkte er nichts vom schönen Wetter. Er merkte überhaupt nichts. Er merkte nur, dass er nichts merkte.

Er wusste nicht wohin er ging. Aber er wusste er war auf dem richtigen Weg.


Sie schlief aus und merkte gar nicht wie schön das Wetter draußen war. Als sie schließlich auf-stand fror sie.

Nachmittags ging sie nach draußen, jemanden besuchen. Auf dem Weg ging sie noch zu einem Kiosk.


Er kam an einen Kiosk. Ohne nachzudenken ging er drauf zu.


Als sie wieder rauskam und die Straße überquerte drehte sie sich noch einmal intuitiv um.

Ihr blickt fiel auf ihn und ruhte dort einige Sekunden, bis sie begriff.


Seien Nackenhaare stellten sich zu Berge, noch bevor er es überhaupt wusste.

Sie stellten sich zu Berge bevor er den Schrei hörte.

Sie stellten sich zu Berge bevor er den stumpfen Aufprall hörte.

Und auch vor dem Quietschen der Reifen.


Das Einzige, an das sie denken konnte war er. Sie spürte nicht den Schmerz, den ihr Körper spürte. Sie spürte nur den Schmerz ihrer Seele. Sie hatte Angst.

2009/03/23

Mein emotionales Loch

„Ich liebe dich.“ Das ist es, was ich mich sagen höre, wenn ich mich mit ihr reden denke. Ich sehe ihren erstaunten Blick, ein schwaches Lächeln – jenes, welches mir den Grund für diese Konversation gibt? Danach teilen sich die Utopien; die Eine fällt mir in die Arme mit einem Ausdruck auf ihrem Gesicht, der nach dem ersten Tageslicht nach einer ewig anhaltenden, kalten Nacht aussieht; die Andere versucht etwas zu sagen, bricht ab, versucht es erneut, bricht es erneut ab und schafft es mit dem dritten Versuch ein „Oh,… tut mir Leid, aber…“ aus ihrem roten Lippen zu drücken bevor sie seufzend den Kopf schüttelt und an mir vorbei geht; eine Dritte schafft es, mir so schnell eine zu verpassen, dass ich nur noch den Schmerz spüre, während sie innerlich mit sich kämpft: um Klarheit, um Gefühle, um Treue. Wie es weitergeht, traue ich mich nicht zu denken.

Fast täglich läuft dieser Film vor meinem inneren Auge ab, fast täglich fasse ich mir unbewusst an die Wange, fast täglich schüttel ich den Kopf um am liebsten alles zu vergessen – ohne Erfolg natürlich. Und das schon seit Jahren. Seltsam, wie stark man einige Dinge vergessen kann, eher noch verdrängen.

Mittlerweile bin ich weit genug vorgedrungen jemanden gefunden zu haben, der scheinbar über ihre Handynummer verfügen soll. Ein alter Bekannter von mir, von ihr. Eigentlich war es vom Beginn an klar, er würde eine Schlüsselrolle spielen. Irgendwie. Jetzt sitze ich hier und ringe mit mir selbst, stelle mir selbst die Frage, ob ich jemals den Mut aufbringe ihn zu fragen, und viel wichtiger: ob ich es jemals schaffe mich ihr zu erklären, wenn ich doch schon vorher scheitere. Was bin ich doch für ein Mensch.

Aber auch diese Hürde packe ich. Ein zwangloses „Hast du…?“ und fünf Minuten später habe ich die Nummer in meinem Handy eingespeichert. Leichter als erwartet, keine Frage, kaum Kritik. Alles Geschmackssache. Und jetzt ist es soweit: ich rufe sie an. Klar. Mache ich. Gleich. Ich gehe duschen. Die Euphorie über den kleinen Erfolg, die Vorfreude auf etwas total Unklares, die Sucht nach peinlichster Selbstoffenbarung, alles vergeht schneller als erwartet. Ehe ich mich versehe, ist es spät in der Nacht, ich gehe schlafen. Besser als erwartet.

Als ich am morgen aufwache, bemerke ich, dass ich so schlecht geschlafen habe wie noch nie. Ich brauche keine zwei Sekunden nachdenken; ich weiß sofort warum. Hunger habe ich an diesem Morgen keinen. Ich quäle mir eine Scheibe Brot runter und verschwinde zur Arbeit. Arbeit… seit diesem Tag möchte ich den Begriff am liebsten neu definieren. Achteinhalb Stunden Bauchweh. Zu Mittag gibt es ein kleines Croissant vom nächsten Bäcker, nichts Großes aber immer noch zu groß. Als ich nach Hause fahre bin ich froh endlich wegzukommen. Mein Bauch fühlt sich an wie Dresden ’45, mein Kopf wie Hiroshima. Das Einzige, an das ich denken kann ist mein verdammtes Ego. Wie es sich schon wieder vor sich selbst beschützen glaubt. Am besten springe ich mit 120 aus dem Auto und hoffe, dass ich weit genug komme, den 18-Tonner auf der Gegenspur noch zu erwischen. Dann würde mein Äußeres wenigstens einmal mein marodes Inneres widerspiegeln.

Zu Hause angekommen riskiere ich es einfach: ich rufe an. Dieses Mal wirklich. Ich wähle die Nummer aus. Ich laufe noch ein paar Spuren in dem Teppich, visiere den Knopf, der mit der Funktion „Call“ tituliert wird, an. Ich drücke ihn. Mitten in der Spur bleibe ich stehen, mir dessen kaum bewusst suche ich die nächste Wand. Mit dem Rücken an ihr gelehnt, höre ich mein Herz: Das Blut jagt sich selbst in den scheinbar viel zu engen Bahnen – bald werden sie platzen. Welch ein schönes Symbol.

Einmal. Zweimal. Dreimal tutet es. Plötzlich überfällt mich der Zweifel: was sollte ich sagen? Wie wird sie reagieren? Sie wird mich hassen. Nicht grundlos. Niemand mag es, wenn einem solch ein Kompliment gemacht wird. Sie wird mich hassen. Viermal. Ach, und wenn schon. Wir kennen uns doch sowieso kaum. Außerdem wollte ich sowieso einmal richtigen Schmerz spüren. Dreimal halte ich noch durch. Fünfmal. Schmerz? Ich hatte heute achteinhalb Stunden puren Schmerz. Reicht das etwa nicht? Sechsmal. Nein. Siebenmal. Ich lege auf.

Halb stolz, halb wütend, halb niedergeschlagen und natürlich erleichtert lasse ich den Arm fallen. Ich müsste es später noch einmal probieren, denke ich, pflichtbewusst. Eine kleine Stimme in mir behauptet voller Optimismus, dass sie jetzt zurückrufen würde – sie hätte die Nummer ja im Display gesehen. Während ich das Handy weglege frage ich mich, ob es wirklich sieben Mal geklingelt hat. Zeitgefühl. Bei einem Puls von 240 kaum möglich.

Zwei Stunden später – ein zweiter Versuch. Das gleiche Trauerspiel von vorne. Mein Blut kocht, ich höre meine Ohrläppchen lauter pochen als das Handy. Dann das Tuten. Auch wenn mein Puls von 360 mir nicht die Zeit lässt, zu zählen: Ich weiß es waren wieder Sieben. Keine Stimme zu hören. Doch. Eine kühle Frauenstimme will mir erklären, dass mein gewünschter Gesprächspartner nicht verfügbar ist, danach ein Mann, auf Englisch. Eine Mischung aus Enttäuschung und wieder Stolz durchdringt mein emotionales Denken.

Wie sich die Gründe für meinen Anruf geändert haben, denke ich, als ich nach einer Woche wieder an derselben Stelle stehe, die selber Nummer wähle. Am Anfang war es lediglich ein emotionales Verlangen. Aber schon nach den ersten fünf Anrufen war mir klar, dass sich das jäh geändert hatte. Diese Emotion war zu einem Bruchteil geschrumpft, verdrängt von Neugier und dem unstillbarem Drang, mich selbst zu beweisen. Eine interessante Mischung. Die kalte Computerstimme erklärt mir, dass mein Gesprächspartner nicht erreichbar ist, zum zigsten Male. Ich werfe das Handy auf mein Bett, da gehört es hin. Zur Trostlosigkeit und zur Einsamkeit.

Es kam mir vor als würde es ewig so weitergehen, ewig rufe ich an, ewig tutet es, ewig nicht die Stimme, die ich hören möchte. Eben so überraschter traf es mich, als ich endlich das Ende meiner Sisyphosarbeit mit einem klaren, freundlichen „Ja?“ begrüßt. So überraschend, dass ich es nicht schaffe meinen Namen verständlich auszusprechen. Aber sie bleibt freundlich und hört mich an. Als ich die Kernaussage meines Leidens mit den berühmten drei Worten auf den Punkt gebracht hatte, antwortet sie mit einem „Okay“, dass man zu einem Kind sagt, das einen bittet, mit ihm in der Sandkiste zu spielen. Ein Spiel, dass man aus Freundlichkeit, vielleicht sogar Mitleid und aus der Prävention hinaus sich nicht fremdschämen zu müssen, zumindest für eine kurze Weile mitspielt.


Ich muss einen kurzen Moment warten bis sich die Tür öffnet und sie herauskommt. „Ein Augenschmaus.“ Ich werde erst einige Stunden später bemerken, dass ich diese Worte laut ausspreche. Sie lächelt und folgt mir zum Auto. „Netter Wagen.“ Ich zwinge mir ein Lachen über meine Lippen, die vor Nervosität, wie alles andere meines Körpers auch, total verkrampft sind. Mein alter Peugeot war zwar ein treues Gerät aber bestimmt nichts mit dem ich für mich werben würde. Sie erwidert mein Lachen mit einem Geräusch, das irgendwo zwischen Minnie Maus auf Helium und einer Fledermaus liegt. Ohne eine Warnung fängt sie an zu reden, Ich war wohl zu erst dran, mit dem Kennenlernen. Ich fand also heraus, wie sie ihre Zeit verbracht hatte, nachdem wir uns auf der Schule ein letztes Mal gesehen hatten. Sozialpädagogische Assistentin. Spannend. Gleich neben Krankenschwester und Tierärztin der Wunschberuf einer jeden Frau.

Sie plapperte daher mit einer überwältigenden Weiblichkeit. Eben diese Weiblichkeit, die mich oft genug an und über die Grenze zum Sexismus brachte, wenn ich mit Frauen ihres Schlages zusammen war. Diese redundanten Aussagen über offensichtliche Dinge. Diese Kultwörter, die sich alle paar Wochen ändern würden; so wie die ihrer besten Freundin. Konstante in ihrem Wortschatz wären nur solche Worte, die bei einer Fünfjähren genau die gleichen Assoziationen implizieren würden wie bei einer Fünfzigjährigen. Wörter wie „super“, „süß“, „knuffig“, „wahnsinnig lieb“. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: Dieses unergründliche Interesse für etwas so Sinnfreies wie Potpourri, Kissen oder Dekoration. Ein seltsames Gefühl von Hass, bodenloser Enttäuschung und Zeitverschwendung macht sich in mir breit und auf einmal dreht sich alles in meinem Kopf nur noch darum, wie ich von dieser Frau loskomme.

Ich überstehe die Autofahrt. Den Spaziergang. Die Fahrt zurück. Als sie schließlich aus dem Wa-gen steigt, mit den Worten, „so, jetzt kennen wir uns. Kannst‘ dich ja mal melden!“, wissen wir beide schon, dass das gelogen war. Sie will nicht, dass ich mich melde. Ich will es auch nicht. Das einzige was ich will, ist sie vergessen.

Am Ende frage ich mich, wie ich jemals genug Distanz zu dieser Frau besitzen konnte, dass ich ihr gegenüber ein Gefühl wie Liebe zu empfinden vermochte. Irgendwo war mir schon am Anfang klar, dass sie nur als emotionales Loch fungieren würde. Ich war wohl einfach optimistisch genug, an noch mehr zu glauben.

2009/03/20

Intro

Jetzt ist es soweit – ich schreibe dieses Buch, welches ein solches eigentlich nur in einer meiner vielen von mir selbst so benannten Utopien ist. Während ich die ersten Zeilen verfasse, denke ich darüber nach, wie weit ich wohl kommen mag. Es wäre nicht das erste Projekt, das nach ein oder zwei Stunden mehr oder weniger liebevoller Arbeit einfach so aufgegeben würde. Ich frage mich auch, ob ich vielleicht zu persönlich werde, vielleicht nicht persönlich genug. Wenn ich mich tiefer in diesen Gedanken stürze, sehe ich das Buch bei einer großen Buchhandlung schon per Wandplakat beworben und daneben ein Regal mit schwarzen Umschlägen auf denen so etwas steht wie „Melancholisches Blutbad, von Anonym“, „Anonym: Bekenntnisse eines mentalen Wracks“ oder „Anonym gesteht Selbstmord“. Natürlich Anonym, natürlich mit roter Schrift. In meiner Utopie bekomme ich sogar einen Anruf von einem großen, Luxemburgischen Fernsehsender, ob ich mich bei einer allwöchentlichen Show wohl als Misanthrop und Emotionsfaschist darstellen lassen möchte. Natürlich lehne ich ohne eine Chance mich überreden zu lassen ab; nachdem ich frage, woher die nette Dame aus Köln denn meine Nummer hätte. Die Antwort bezieht sich auf eine scheinbare Geschäftspolitik, die eigenen gekauften Quellen nicht preiszugeben. Ich lege auf und programmiere für die nächsten fünf Minuten eine Rufumleitung zur 110 ein; viel Spaß, Frau Hilpers.

Natürlich wird das alles niemals passieren. Mein Literarisches Gesicht wird niemals auf einem DIN A2-Plakat an den Pranger gestellt, denn es wird niemals bis zum Einband kommen.

Manchmal passiert es einfach, dass meine Utopien mir einfach entwachsen. Und das ist im Grunde auch gut so, es ist ja nicht so, als ob eine Utopie etwas Schlechtes wäre – ganz im Gegenteil: hätte ich nicht diese mentalen „Störungen“, säße ich nicht hier und würde einen Text schreiben, der bei den allermeisten Menschen niemals auch nur ein bisschen Verständnis erreichen wird, geschweige denn Mitgefühl. Aber dazu ist dieser Text, diese Ansammlung von Texten, auch nicht da. Ich habe mich auf dem Weg zu diesem Buch schon oft selbst gefragt, warum. Einerseits ist es wohl einfach nur eine Substitution: ich möchte nicht irgendwann beim Psychiater sitzen und mich fragen, warum ich es nicht vorher bemerkt habe, dass hier etwas nicht stimmt. Andererseits brauche ich wohl ein Emotionales Loch, eine Art unpersönliches Tagebuch. Des Weiteren neige ich dazu – wenn auch in wohlbemessenem Maße – eine gewisse Selbstpräsenz an den Tag zu legen, die mich selbst manchmal schockiert und mindestens genauso, wenn zu dem Moment möglich, frustriert. Ein Buch würde dieses Verlangen stillen, zumindest für eine Weile. Als Letztes… und mit dem wenigsten Ernst ist es wohl auch zu beachten, dass im nicht allzu unwahrscheinlichen Falle eines Amoklaufes meinerseits dieses Dokument einen gewissen Schatten auf so ziemlich alles vermeintlich Positives im Leben werfen soll. Und das Ganz ohne „Killerspiele“.