Er
Bescheuert, dachte er.
Bescheuert.
Er hatte das schon so oft gedacht. Er hatte es gedacht als sie das erste Mal mit ihr sprach.
Bescheuert.
Er hatte es gedacht als er das erste Mal mit ihr allein war.
Bescheuert.
Eigentlich hatte er es immer gedacht wenn es um sie ging.
Bescheuert.
Ja, das war bescheuert, dachte er. Und er hasste sich dafür. Er hasste sich dafür, dass er sie im-mer mit einer Abscheu beachtet hatte, immer. Auch als er begann sich in sie zu verlieben. Er hatte sie immer nur für bescheuert gehalten, seit er sie das erste Mal gesehen hatte.
Er wusste nicht einmal warum.
Er durchforstete seine Erinnerung nach einem Anzeichen dafür, dass sie nicht bescheuert gewesen war. Nichts.
Er durchforstete seine Erinnerung nach einem Anzeichen dafür, dass sie wirklich bescheuert gewesen war. Nichts.
Ihm kam langsam der Gedanke, dass er sich nie besonders für sie interessiert hatte. Und doch hatte er sie geliebt.
Er fühlte sich schlecht. Hatte er sie schlecht behandelt? Er konnte sich nicht daran erinnern. Aber er konnte sich auch nicht daran erinnern sie gut behandelt zu haben. Ja, wie hatte er sie denn überhaupt behandelt?
Sicher, er hatte sich um sie gekümmert. Er hatte dafür gesorgt, dass es ihr gut ging. Er wusste weshalb. Er wusste er hatte es nur wegen seines Gewissens getan. Er hatte sie weder gut noch schlecht behandelt; lediglich so, dass sie zufrieden war.
Er hatte sie bei Laune gehalten. Nur um sich bei Laune zu halten.
Er liebte sie. Nein.
Er hatte sie geliebt. Ja.
Ihr Wohlbefinden war demnach mit seinem verknüpft, dachte er. Das würde erklären warum er sich so mies fühlte.
Und er krümmte keinen Finger.
Er stand da und sah zu.
Sie
Hilflos, dachte sie.
Hilflos.
Sie war hilflos.
Hilflos.
Das war sie immer gewesen.
Hilflos.
Sie hatte sich immer einsam gefühlt, einsam und hilflos.
Hilflos.
Und dann kam er. Er hatte ihr geholfen, ihr Kraft gegeben. In seiner Nähe fühlte sie sich stark. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich getroffen hatten. Sie hatte ihn bewundert. Er war lässig und locker gewesen. Hatte keine Angst vor dem Leben. Sie hatte Angst. Warum eigentlich?
Sie wusste nicht einmal warum.
Sie durchforstete ihre Erinnerungen nach einem Anzeichen dafür, wie sie so ängstlich geworden war. Nichts.
Sie durchforstete ihre Erinnerung nach einem Anzeichen, dass sie jemals mutig gewesen war. Nichts.
Ihr kam der Gedanke, sie war schon immer so gewesen. Abhängig von Stärke und selbst doch so schwach.
Sie fühlte sich schlecht. Hatte sie ihm jemals gedankt? Gedankt dafür, dass er ihr Mut gab? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Aber sie konnte sich auch nicht daran erinnern undankbar gewesen zu sein. Ja, wie war sie denn überhaupt zu ihm gewesen?
Sicher, sie hatte sich um ihn gekümmert. Sie hatte dafür gesorgt, dass es ihm gut ging. Sie wusste weshalb. Sie wusste sie hatte es nur wegen ihres Gewissens getan. Sie hatte ihn so behandelt wie sie es für richtig hielt; lediglich so, wie eine Frau ihren Mann behandeln sollte.
Sie hatte ihn bei Laune gehalten. Sie hasste sich dafür.
Sie liebte ihn. Nein.
Sie hatte ihn geliebt. Nein.
Sie hat ihn bewundert, er war intelligent gewesen. Und mutig. Sie war nur ein Insekt, das sich an seinem Mut labt.
Sie hoffte er würde keinen Finger krümmen.
Sie hoffte er würde dastehen und zusehen.
1
Wenn er sich daran erinnerte wie alles begann, fand er es bescheuert. Natürlich tat er das. Er fand ziemlich viel bescheuert. In seinen Augen war dieses Wort ziemlich treffsicher wenn es darum ging Dinge zu beschreiben. Besonders Dinge, die mit ihr zu tun hatten.
Diese Einsicht hatte er damals noch nicht.
Wenn sie sich daran erinnerte wie alles begann, schwelgte sie in Erinnerungen, Erinnerungen, die sie an eine schöne Zeit erinnerten. Eigentlich an eine schlechte Zeit, die durch eine Gute abgelöst wird. Sie erinnerte sich gerne daran.
Zumindest ist das jetzt so.
Er hatte beschlossen, sich zu betrinken. Warum wusste er nicht mehr. Er war wohl ziemlich sauer über irgendwas, hatte sich auf der Arbeit schwer getan; etwas in die Richtung muss es gewesen sein.
Daher ging er in einen kleinen Club am Rand der Stadt. Er setzte sich an den Tresen und trank. Er wollte diesen Tag hinter sich bringen. Es musste wohl etwas Schlimmeres gewesen sein, weshalb er sich betrinken wollte. Nach seinem ersten Whiskey bestellte er sich noch einen.
Eigentlich mochte er diesen Club nicht, das merkte er beim Trinken. Er mochte die Musik nicht, die gespielt wurde. Aber sein Musikgeschmack war kritisch, das wusste er. Er mochte den Geruch nicht. Auch mochte er es nicht was für Leute hier waren. Aber der Whiskey war gut. Er blieb.
Sie ging gerne in diesen Club. Das wusste sie. Meistens ging sie mit Freundinnen hin, selten alleine. Damals war sie allein gewesen. Sie fand es selbst ein wenig seltsam alleine zu gehen, redete sich jedoch immer wieder ein sie würde schon wen nettes finden. Sie fühlte sich ein bisschen unwohl, so alleine.
Sie setzte sich auf eines der Sofas, das in einer der Ecken stand. Es dauerte nicht lange und sie wurde von einem bekannten Gesicht angesprochen. Der Mann war nett zu ihr, spendierte ihr einen Drink. Obwohl er so nett war, mochte sie ihn nicht. Sie nahm nur aus Höflichkeit an. Der Mann bestellte mit der Zeit mehr und mehr Drinks. Ab dem dritten Glas lehnte sie jedoch Weiteres ab. Schließlich wurde er ungehalten, sah die Sinnlosigkeit dieser Unterhaltung und verschwand. Was er sagte wusste sie nicht mehr. Er war nicht mehr wichtig.
Es war sein siebtes Glas. Oder war es das achte? Er wusste es nicht mehr. Nüchtern war er nicht mehr. Aber trotz allem waren seine Sinne geschärft. Er hatte etwas entdeckt, weswegen sich das Kommen vielleicht noch gelohnt hatte. Er ging auf sie zu.
Er kam auf sie zu. Sie sah ihn schon als er vom Hocker aufstand und sich auf das Sofa zubewegte. Sie wusste sofort er würde zu ihr kommen. Sie wusste, dass sie hübsch war und war es gewohnt angesprochen zu werden. Sie wartete bis er direkt vor ihr stand bis sie ihn ansah. Ihr erster Gedanke war, dass er gut aussah. Er könnte ihr gefallen.
Er sprach sie an. Es war keine zu weit gegriffene Anmache wie er fand, er fand es nett und ehr-lich. Und so meinte er es auch. Sie überlegte eine Sekunde dann nickte sie, und er setzte sich. Er versuchte ein paar mehr Worte mit ihr zu wechseln, sie antwortete aber meistens nur knapp und kurz angebunden. Lediglich die Frage nach der Musik in diesem Club antwortete sie in einem größeren Redeschwall. Es kam ihm vor als freue sie sich darüber etwas mehr sagen zu können also bei den anderen Fragen, so sehr, dass sie einfach losplapperte.
Als sie fertig war, bemerkte sie wie erstaunt er auf sie blickte und errötete. Sie mochte es nicht zu viel zu reden oder zu sehr im Mittelpunkt zu stehen. Sie blickte auf ihre Füße. Als sie wieder auf-blickte - ein höhnisches Grinsen erwartend - sah sie, dass er lächelte. Sie lächelte zurück.
Bescheuert, dachte er. Nicht nur ihre Differenzen im Musikgeschmack, auch ihr Verhalten war einfach bescheuert. Es hatte ihn Kraft gekostet so zu lächeln, dass sie zurücklächelte. Sein Ziel hatte sich innerhalb von Sekundeschnelle geändert. Er hatte nicht mehr vor eine Beziehung zu der Frau ihm gegenüber aufzubauen. Er wollte nur noch seinem Drang nachgehen und glaubte er würde erfolgreich sein.
Sie fing an ihn zu mögen. Sie redete mehr und mehr mit ihm. Sie wunderte sich ob diese plötzli-che Öffnung ihrerseits vom Alkohol kam oder ob sie ihn wirklich mochte. Schließlich willigte sie ein, einen Spaziergang mit ihm zu unternehmen.
Er hatte ihr kaum zugehört. Aber er wusste sie hatte davon nichts bemerkt. Er hatte sie da wo er sie wollte. Neben ihm gehend, die dunklen Straßen entlang. Als sie schließlich da waren wo er sie haben wollte, brauchte er kaum noch Worte. Sie hatte mittlerweile das gleiche im Sinn.
Sie genoss es.
2
Er wachte als erstes auf. Er fühlte sich seltsam. Seltsam leer und gleichgültig. Und zugleich selt-sam glücklich. Er schaute sie, in seinen Armen liegend, an. Er konnte sich ein Lächeln nicht verknei-fen. Er schlief als erstes wieder ein.
Sie wachte als zweites auf. Sie fühlte sich seltsam. Seltsam glücklich und wohlgeborgen. Und zugleich seltsam ausnutzend. Sie schaut ihn, den Arm um sie gelegt, an. Sie lächelt. Sie schlief als zweites wieder ein.
Er wusste nicht mehr genau, wie sie den morgen miteinander verbrachten. Er glaubte immer noch er sei angetrunken und konnte sich nur an das seltsame erleichternde Gefühl erinnern. Er weiß nur noch, dass er traurig war als er sie gehen sah. Er wusste nicht einmal wohin sie ging. Er wusste nicht ob sie sich jemals wiedersehen würden. Schulterzuckend ging er ins Haus zurück. Er hatte sie schon fast vergessen.
Sie wusste noch genau, wie sie den morgen verbrachten. Sie standen miteinander auf. Sie frühstückten zusammen. Sie redeten nicht viel. Sie verbrachten noch etwas Zeit miteinander, hauptsächlich saßen sie sich gegenüber, wichen einander Blicke aus. Wenn sich ihre Blicke dennoch trafen, lächelten sie sich an. Danach sahen sie wieder weg. Sie mochte dieses Hin und Her. Sie versuchte ihm langsam wieder näher zu kommen. Erst den Fuß, dann die Hand. Er reagierte nicht auf ihre Aufforderung. Nach einer Weile gab sie es auf.
Schließlich wurde es ihr unangenehm. Sie erfand eine Ausrede und ging. Sie zwang sich, nicht zurückzublicken. Es fiel ihr leichter als sie dachte.
3
Es war ein schöner Donnerstag. Aber ihm war langweilig. Er fühlte sich seltsam nutzlos in seiner Wohnung. Er hatte das Gefühl, nach draußen gehen zu müssen. Er hatte das Gefühl, er würde ge-braucht werden.
Als er heraustrat aus der Haustür merkte er nichts vom schönen Wetter. Er merkte überhaupt nichts. Er merkte nur, dass er nichts merkte.
Er wusste nicht wohin er ging. Aber er wusste er war auf dem richtigen Weg.
Sie schlief aus und merkte gar nicht wie schön das Wetter draußen war. Als sie schließlich auf-stand fror sie.
Nachmittags ging sie nach draußen, jemanden besuchen. Auf dem Weg ging sie noch zu einem Kiosk.
Er kam an einen Kiosk. Ohne nachzudenken ging er drauf zu.
Als sie wieder rauskam und die Straße überquerte drehte sie sich noch einmal intuitiv um.
Ihr blickt fiel auf ihn und ruhte dort einige Sekunden, bis sie begriff.
Seien Nackenhaare stellten sich zu Berge, noch bevor er es überhaupt wusste.
Sie stellten sich zu Berge bevor er den Schrei hörte.
Sie stellten sich zu Berge bevor er den stumpfen Aufprall hörte.
Und auch vor dem Quietschen der Reifen.
Das Einzige, an das sie denken konnte war er. Sie spürte nicht den Schmerz, den ihr Körper spürte. Sie spürte nur den Schmerz ihrer Seele. Sie hatte Angst.