2009/04/17

On The Road Again, Playin’ Star Again

Und wieder einmal kehre ich Heim, von einem der fast schon üblich gewordenen Auftritte. Es war eine Hochzeit, kurz ein Ständchen zum 60. Geburtstag, ein Dienstjubiläum im engen Kreis mit müder Stimmung. Überall das selbe traurige Bild: Sie klatschen wenn man den Raum betritt, heucheln überraschte Begeisterung und begeisterte Überraschung, klatschen wenn man den Raum verlässt. Man selbst steht dann ziemlich alleine mit sich und Anderen vorne. Man "zieht sein Ding durch". Eine ziemlich treffende Bezeichnung. Ganz ohne hier auf Nervosität, Angst, Lampenfieber einzugehen: der Satz bringt die unausgesprochene Distanz zwischen Künstler und Publikum ziemlich genau auf den Punkt. Es ist meistens eine soziale und gesellschaftliche Kluft zwischen beiden Fronten, in der Abscheu mit falschen Lächeln und Arroganz mit einem feuchten Händedruck und Geld kompensiert wird.

Man spürt diese Stimmung schon bevor man den Saal betritt oder sich der Vorhang öffnet. Ein müdes, stark geschminktes Gesicht, das verfrüht den Raum verlässt, einen aber keines Blickes würdigt; eine Gastwirtin, die ihr Lächeln schon vor Jahren an den Nagel gehängt hat; ein Geruch von absoluter Sinnfreiheit. Dieses trockene, enttäuschende Gefühl macht sich dann in einem breit. Dieses Gefühl, schon wieder auf einem dieser verdammten Auftritte gelandet zu sein und keinen Platz lässt für echte, andere Gefühle. Außer natürlich dem erschreckenden Gefühl von Zeitverschwendung, wie es bitter in die Magengegend sinkt.

Man bekommt schon bei Ankunft in der Gaststätte den Weg zur Schenkstube gezeigt: denn dort wird man den Abend verbringen. Vermutlich auch für beide Parteien das Beste, spart die Farce. Als nächstes kommt jemand und sagt einem die Uhrzeit für den Auftritt. Wir werden angekündigt, betreten den Festsaal und fangen mit der Show an. Nach einer halben Stunde verlassen wir die Bühne wieder, das selbe lahme Klatschen hinter uns lassend, mit dem wir sie betreten haben. Kurz danach kommt jemand und bringt uns die Gage. Eine Gage, die Anfahrtskosten deckt, die bei einem guten Publikum auch die Lust auf ein oder zwei Bier zulässt. Aber selbst wenn das schlechteste Publikum die beste Gage zahlt: Sie wird es nicht wert sein, denn die Kluft ist teuer.

Wieder zu Hause angekommen – den Abend ruiniert – gehe ich duschen, versuche mir einzureden, dass dieser Auftritt einen Sinn hatte und formuliere innerlich doch schon meine Kündigung an die Band. Das werde ich natürlich nicht machen, das weiß ich auch.

Ich gehe früh ins Bett. Morgen sind wieder zwei Auftritte.

2009/04/03

Amoklauf

Am 11. März 2009 lief der in den Medien als Tim K. betitelte 17-Jährige Amok. Er besuchte seine ehemalige Realschule. Schoß auf Schüler und besonders Schülerinnen, traf, tötete. Er ist einer von mittlerweile vielen. Durch das unendliche kommerzielle Staubaufwirbeln der Medien wurde diese Art von Sozialsuizid mittlerweile so populär, dass es fast jährlich an einer deutschen Schule passiert. Fast so sicher wie das Amen in der Kirche.

Das Erste was ich zu diesem Thema im Internet finde, ist ein Bericht auf Welt.de. Ein Blick auf das Impressum bestätigt meinen Verdacht bezüglich dieses meinungsverfälschenden Berichts. „Axel Springer AG“ grient mir dort entgegen. In meinem Denken mittlerweile zu einem Synonym für Begriffe wie „Meinungshandel“, „Massenkontrolle“, „Neopropaganda“ herangewachsen, kommt dieser „Verlag“ auch bei den Kommentierenden des Berichts nicht mehr so gut an. Der Bericht handelt über eine Geisel und wie sie ihre Misere zum Geschäft macht. Natürlich ist das moralisch nicht vertretbar. Aber wer erwartet, dass gerade besagte Aktiengesellschaft dieses Verhalten an den Pranger stellt?

Immerhin ist diese nur durch solch kritisiertes Verhalten wirklich zu dem gelangt, was sie heute ist. Das Zentrum von Bevölkerungsverdummung und –Manipulation. Der Urvater der Schlechtschreibung. Der völkische Beobachter der Neuzeit.

Dieses Tagesblatt versucht also, besagt Geisel für ihr kommerzielles Verhalten – der Geldmacherei an anderer Leute Übel, also dem Amoklauf – schlecht zu reden. Ich muss immer wieder denken wie paradox das ganze doch ist; nicht nur, dass die Zeitung selber über Jahrzehnte so ihr Geld verdient hat, sondern jetzt macht sie jemanden schlecht, der eben dieses Verhalten an den Tag legt und verdient sogar noch daran! Sie verdient Geld damit, dass die Geisel Geld verdient und dass sie sich darüber aufregt. Ich kann kaum aufhören, diese Phrase anders verpacken zu wollen um es wirklich klar zu machen.

Die Grundlage, auf der eine Bildzeitung – genauso ein RTL, ein Pro Sieben oder ein Sat1; eigentlich alle Mainstream-Erfolgs-Medien – funktionieren kann, ist eine Perversion. Menschen sind pervers, alle wie sie da sind. Sei es der Serienvergewaltiger, der seine Tochter über Jahre im Keller eingesperrt hält um sie zu schänden, sei es der Pfarrer einer kleinen Kapelle, der die Beichte abnimmt und sich doch keiner Schuld bewusst ist, sei es der Präsident der Vereinigten Staaten, egal welcher: sie alle sind pervers. Ich bin pervers, du bist pervers, er und sie auch. Menschen sind pervers.

Mit pervers meine ich nicht diese Perversität, die ein Spanner besitzt, dieses animalische Verlangen nach sexueller Befriedigung. Ich meine nicht das Verlangen anderen Personen oder sich selbst Schmerz hinzuzufügen. Ich meine auch nicht das Verlangen sich selbst zu entblößen, sich an älteren oder gar toten Menschen oder Tieren zu vergehen. Wenn ich hier von pervers spreche, beziehe ich mich auf die Perversion des Fremdschämens. Wenn der heute Ottonormalbürger besagtes Propagandablatt aufschlägt und liest „12 Tote bei Geiseldrama!“ oder „XY gesteht: Ja, ich bin schwul“, dann verspürt Otto eine Art Glücksgefühl (nämlich besagte Perversion). Otto denkt sich, schön. Otto denkt sich, schön weit weg. Und Otto freut sich wie sicher er doch ist, wie gut es ihm geht. Und Ottos Perversion führt in sogar dazu, zu denken wie schön es doch ist, dass ihm so etwas nicht passiert; wie gut es doch ist, dass es Anderen passiert.

Wie gut es doch ist, dass es Anderen passiert.

So schnell kann es gehen! Ohne dass er es merkt, ist Otto zu dem geworden, wovor er doch so Angst hat, was ihm immer als schlecht und böse eingeredet wurde – von seinen Eltern, seinen Lehrern und nicht zuletzt den Medien – zu einem von so Vielen: So ganz ohne Mitleid, voller Arroganz und Selbstzufriedenheit. Dass es Otto trotzdem nicht gut geht, dass er dabei gar nicht glücklich ist, das ist eine andere Geschichte.

Unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, ist, wie eigentlich alle Industriestaaten und ein Großteil der Entwicklungsländer, voller Ottos. Überall sitzen Perverse vor ihren Fernsehern, lesen Zeitung, hören Radio. Sie merken überhaupt nicht, warum es ihnen so sehr gefällt, das Schrecken dort draußen so genau (und doch zu verfälscht) zu erfahren.

Als im 11. Oktober 2004 das allererste Mal Stromberg im deutschen Fernsehen anlief, mit Christoph Maria Herbst als Inkarnation des Fremdschämgottes, war ich zuerst erstaunt, wie viele sich diese Sendung doch angesehen haben. Der Humor ist „schwer“ zu erkennen, die Charaktere sind überhaupt nicht zum Liebhaben gemacht und die Serie erinnert schmerzhaft stark an den eigenen Büroalltag.

Stromberg hat mittlerweile den allseits begehrten „spaltet die Nation“-Status: die einen lieben den „schlimmsten Chef der Welt“, die anderen hassen ihn. Eigentlich logisch. Fremdschämen ist auch hier das Stichwort. Für die Einen ist es die Perversion der Superlative, den Anderen ist es schon zu fremd geworden.

Ich rede mir manchmal gerne ein, dass Christoph Maria Herbst und Co. ein anderes Ziel mit dieser Serie verfolgen: Sie wollen Otto sich überfressen lassen, die Perversion in den Himmel schießen und so vielleicht darauf Aufmerksam machen, dass die Medien dieses doch nur allzu menschliche Gefühl ausnutzen, um damit ihre Bilanz zu verbessern.

Vermutlich ist das allerdings nur Wunschdenken von mir. Vielleicht ist Christoph Maria Herbst auch nur ein Otto von den Vielen, die grade die Bildzeitung aufschlagen und sich denken, wie schlecht doch dieser Amoklauf ist, wie viel schlechter die Geisel ist, mit ihrem Drama Geld zu machen, wie gut es doch ist, dass sie selber weit weg sind von alledem.