Ich dachte ich hätte sie schon vergessen und ein resigniertes Resultat aus der Affäre gezogen: Es gibt keine Liebe. Diesen Satz zu schreiben erinnert mich schon an eine Zeit, eine Zeit lange her, in der ich dieses Lied zum ersten Mal hörte:
Es gibt keine Liebe auf dieser Welt,
es ist ein Traum, der uns gefällt.
Es gibt nur Lüge, Gier und Hass
und viele Tränen, dick und nass.
Ich war damals noch jung, als ich mich in einer schönen Sommernacht zu diesem Lied betrank. Schon damals hatte ich nur sie im Kopf, sie und keine andere. Klar, damals wie heute habe ich sicher auch anderen Frauen hinterhergeschmachtet, aber ihr Name war immer da, ihr Name war „Gesetz“. Damals kannte ich sie über Dritte, von der Schule, über einen damaligen Freund. Dieser ist mittlerweile nur noch kategorisiert als „irgendein Bekannter“ und so, wie sich die Kluft zwischen ich und mir gebildet hat, so hat sie sich auch zwischen mir und ihr gebildet. Damals kannten wir uns, zumindest ein bisschen. Immerhin genug um während der Wartezeiten auf den nächsten Bus miteinander zu reden. Flirten? Nein, wohl nicht. Ich war damals schlicht zu blöde für sowas. Und sie?
In meiner Einbildung hat sie es sicher getan, mit mir geflirtet. Sonst nicht.
Die Zeiten hatten sich schon geändert, als ich sie damals angerufen habe. Ein peinliches Erlebnis, aber vergessen möchte ich es trotzdem nicht. Damals war sie schon so… anders. Eigentlich überhaupt nicht anders. Nur fremd. In den drei(tausend) Jahren, in denen ich keinen Kontakt mit ihr hatte, hat sie neue Leute kennen gelernt, neue Freunde, neue Bekannte. Sie hatte sich entwickelt. Eine Entwicklung, die ich am liebsten selbst angestoßen hätte, aber ich war damals zu dumm gewesen.
Sie war mir nicht nur fremd: sie war mir auch voraus. Zumindest glaubte ich das. Vermutlich wollte sie es mich glauben lassen; Zeitverschwendung, schlechtes Gewissen, das ganze Pi-Pa-Po. Sie war einfach nur so fern, so distanziert, obwohl sie doch neben mir saß und mit mir sprach. Sie war nett, aber vehement auf ihrer Position.
Als ich wieder zu Hause war, hatte sich die Sache für mich erledigt: ich wusste, ich würde ihr noch nachtrauern, aber von Liebe war keine Spur mehr. Ich dachte ich hätte das Tier in mir damit getötet. Ich fühlte mich alles in allem besser; in den Monaten die darauf folgten, entwickelte ich mich weiter, gen „Elite“. „Elite“ ist für mich das absolute Maß an Perfektion, das es einfach nicht mehr zu übertreffen gibt. „Elite“ ist es, vor Tausenden von Menschen „einfach sein Ding durchzuziehen“. „Elite“ ist es, zu wissen was kommt, zu wissen wie man reagieren soll und zu wissen, was niemals passieren darf. „Elite“ ist das absolut fehlerfreie Spielen auf einem Konzert, es ist das Verhalten auf der Bühne, und auch darüber hinaus; es ist die optimale Antwort auf ein Problem; die absolute Lösung in Form eines Menschen. „Elite“ kennt keine Liebe. „Elite“ wollte ich sein. Ich wurde immer elitärer, auf der Arbeit, mit meiner Musik, in gesellschaftlichen Aspekten.
Heute wandle ich, durch Langeweile bedingt, in Internet-Communites um her. Mit einem Schmunzeln muss ich an sie denken, gebe ihren Namen in das Suchfeld ein. Eine Liste von Personen mit diesem oder ähnlichem Namen erscheint. Zuerst finde ich sie nicht, doch dann entdecke ich ihr Gesicht, verdeckt mit einer Sonnenbrille und eine knallbunten Strickmütze – so wie ich sie in Erinnerung habe. „Sie ist schwer zu erkennen, vielleicht täusche ich mich ja“, trickse ich mich dazu, ihr Profil anzuklicken. Kurz zweifle ich sogar daran, dass sie es ist: der Ort ist nicht gerade der, den sie erwähnte als wir damals miteinander sprachen. Als ich aber weiter Bilder von ihr sehe, trifft es mich wie ein Schlag: Sie ist es. Und sie tut weh. Ihr Anblick ruft den Moment zurück, als sie den Hörer abnimmt und mit einem spürbarem Lächeln „Hallo“ in die Sprechmuschel sagt. Das Gefühl von Liebe erfasst mich, die Reue, dass ich sie nicht damals angesprochen habe, als es Zeit gewesen wäre raubt mir die Luft. Ich sehe ihr Gesicht vor mir, wie ich es in Erinnerung habe. Das vermeintlich frohe Lächeln, von dem ich mir wünschte, ich wäre der Ursprung; der rote Mund, den ich so gerne küssen würde; die Augen, oh, ihre Augen…; das kastanienfarbene, lange Haar, das weiche.
Jetzt ist sie weg, weit weg. Irgendwo hoffe ich, dass ich sie noch einmal wieder sehen werde. Woanders hoffe ich, sie endlich zu vergessen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich, dass beides nicht passieren wird. Und der Glaube daran, dass Liebe nur eine biochemische Reaktion auf einen Naturinstinkt, auf das natürliche Verlangen der Fortpflanzung ist, ist dahin. Gestern war ich noch frei von dieser Last, vehement davon überzeugt, Liebe sei nichts als Einbildung. Ich hatte meine Arbeit, meine Musik, meine Freizeit und ich war glücklich. Heute bin ich ein Knecht ihres Anblicks und will nichts mehr, als wieder glücklich zu sein. Mit oder ohne sie, je mehr desto besser.